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Girl Missing
Das Cover von Girl Missing ziert eine Wandmalerei aus der ältesten Marienkirche Roms. Ein stilles Augenpaar starrt gespenstisch aus einem jenseitigen Nichts. Die Arbeit am Album begann mit einem Verschwinden. Eine enge Freundin von Albertine Sarges brach kommentarlos jeden Kontakt ab. Zurück blieben Memorabilia und offene Fäden. Die Berlinerin zog sich zurück und begann, ein Mosaik aus Songs zusammenzusetzen. Es entstand das Bild einer monumentalen Sehnsucht.
Girl Missing ist kein trauriges Album. Hinter dem Verlust findet sich die Erkenntnis, wie gut es ist, weiterzulieben, auch wenn das, was man liebt, verschwindet. Dieser Wunsch nach Verbindung war für Sarges’ musikalisches Schaffen schon immer ein Motor. Vielleicht ist das Girl Missing eben kein vermisstes Mädchen, sondern ein vermissendes. Den innewohnenden Schmerz übersetzt sie in eine nach außen strahlende musikalische Erfahrung voller Lebenslust. Mit jedem der 13 Songs des Albums erscheint die Sängerin mehr, tritt aus der Dunkelheit heraus und steht im Raum als das Subjekt ihrer Liebe.
“Eklektisch, aber niemals epigonal” (Jens Balzer) reihen sich die Tracks mit einem großen musikalischen Vokabular aneinander. Eindrücke von Indie Rock, Blues, Artpop und dem goldenen Zeitalter der 70er Jahre bieten sich an, drängen sich aber nicht auf. Ihre musikalische Vielfalt mag Albertine Sarges als Kollaborateurin in diversen Genres entwickelt haben. Seit 2016 steht Sarges an der Seite von Kat Frankie, zuletzt bei ihrem a-cappella-Projekt B O D I E S, jetsettete jahrelang mit der KI-Electronica-Ikone Holly Herndon durch die USA und europäische Hauptstädte, stand mit Christiane Rösinger für ihre punk-feministischen Stadtmusicals im Hebbel am Ufer auf der Bühne, und nahm zwei Platten mit ihrem zweitem Herzensprojekt Ostia auf. Nebenbei komponierte sie Soundtracks für Theaterproduktionen, wie zuletzt für Shakespeares Wintermärchen am Staatsschauspiel Dresden. Dennoch bleiben der Multiinstrumentalistin und Produzentin Zeit und Drang, um ihrer eigenen Stimme Ausdruck zu verleihen. Ihr Album ergibt einen kohärenten, warmen Sound, in dem trockene Basslines unter luftigen Flöten- und-Stimmen-Loops eine Konstante bilden. Das Album entstand an zwei sehr unterschiedlichen Orten. Zum einen in der Betonlandschaft eines Gewerbeviertels in Berlin-Marzahn, in dem Sarges viele Winterwochen lang, beleuchtet nur von der kleinen Lampe auf dem Fensterbrett, die Sensibilitäten ihrer bekenntnishaften Lieder abtastete. Zum anderen am britischen Küstenort Margate, ein von Windböen und Möwengeschrei aufgepeitschtes Städtchen mit bunten Häusern, wo sie in einem Musikstudio ihres Londoner Labels, der PRAH-Foundation, gemeinsam mit ihren musikalischen Kompagnons die Songs weiterentwickelte. Auf den täglichen Spaziergängen am Meer widmete sich die bekennende Vogelbeobachterin den Watvögeln, wie zum Beispiel den Steinwälzern, die jeden Stein umdrehen, um zu schauen, ob sich darunter ein Würmchen kringelt.
Ihrer eigenen Tradition folgend (die erste Single ihres letzten Albums begann mit einem langen Zitat von Sara Ahmeds Living a Feminist Life) baut Albertine auch in diesem Album überraschende Verweise auf kulturelle Ikonen ein. Da jubelt der 2018 tragisch gestorbene TV-Koch Anthony Bourdain über Nudeln als Lebensgefühl (Stand Near Your Fire), David Attenborough erklärt unnachahmlich die Magie der Auferstehung einer Wüstenblume (Rose of Jericho) und die Weisheit der Altphilologin Anne Carson (Eros the Bittersweet) wird in dem Interlude “Annie Said” angezapft, wo es heißt, Begehren könne erst entstehen, wenn eine bestimmte Distanz vorhanden sei. Es entsteht der Eindruck, dass sich Albertine Sarges ein paar ihrer Idole mit in den Raum geholt hat, um Kraft zu schöpfen. So sind auch die ersten gesungenen Worte des Albums, “One of Our Girls Has Gone Missing”, tatsächlich der Name eines legendären, aber weniger bekannten Albums von A.C. Marias, einer Londoner Künstlerin aus dem Kreis von The Wire. Und auch Albertine Sarges’ Lieblingsalbum, On the Beach von Neil Young, wird in Blue Lagoon liebevoll besungen.
Von emotionaler Abgründigkeit am Rand der Klippe, über im Hausflur hingelegte Blumen, zu skurrilen und albernen Momenten (der letzte Satz ihres Albums lautet: „How do you call a fish with no eyes? A fsh.“) nimmt Albertine Sarges das Publikum mit auf eine Reise durch nur scheinbar widersprüchliche Gefühle. Diese entfalten sich als bemerkenswert lebendig und lebensnah und erzählen die Geschichte eines Verlusts und der Möglichkeit von Erneuerung – eine Geschichte, die lange nachklingt, nachdem die Musik verhallt.
1 | Girl Missing |
2 | Motherless Universe |
3 | I Love You Noodles |
4 | Stand Near Your Fire |
5 | Blue Lagoon |
6 | Annie Said |
7 | Rose Of Jericho |
8 | Reflection |
9 | Cocoon |
10 | On My Mind (Feat. Dena, Daniel Nentwig) |
11 | Friendship |
12 | Paris |
13 | Diving |