Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW 39 23.09. - 29.09.2024

Gonzo

Artist: 
Chilly Gonzales
Erschienen: 
13.09.2024
Label: 
Gentle Threat Ltd.

Nach zwölf Jahren reich an Instrumental-Alben (von zwei Solo-Piano-Platten über Kammermusik bis hin zu gemeinsamen Alben mit Boys Noize, Jarvis Cocker und Plastikman und sogar einem Weihnachts- Bestseller) hat Chilly Gonzales sich eine Menge von der Seele zu schreiben. Die Notizbücher, die seit dem 2011 erschienenen orchestralen Rap-Opus „The Unspeakable Chilly Gonzales“ leer blieben, füllten sich seit Anfang 2022 wieder mit Worten, nachdem Gonzo ein langes Jahrzehnt der Psychoanalyse beendet hatte. Ein Zufall? Wohl kaum. Hinter all den Wortspielen und dem Namedropping (u.a. Ron Jeremy, Marie Kondo, Dschingis Khan und Philip Glass) offenbaren die Songs, die es auf das neue Album „Gonzo“ geschafft haben, eine anhaltende Spannung zwischen Überzeugung und Bekenntnis, Wahn und Selbsterkenntnis und schließlich Dankbarkeit. Auch das Spannungsfeld zwischen Kreativität und Kommerz ist für Gonzo ein Thema, das ihn schon lange beschäftigt. Ist dies wirklich ein Rap-Album? Instrumentalstücke wie das strawinsky-eske „Fidelio“ oder das tränenreiche „Eau de Cologne“ erinnern den Hörer an Gonzos selbsterklärte Rolle als „musical genius“, während sich die Worte und Reime der vorangegangenen Strophen im Ohr festsetzen. Schon mit 16 Jahren wurde Gonzo von seinem Vater zu Wagner-Opern nach Bayreuth geschleppt. Diese Erfahrung prägte ihn fürs Leben.

Der junge Teenager war von der Musik überwältigt, verstand aber, dass ihr Komponist ein monströser Mensch war. Aus diesem Zwiespalt heraus entstand „F*ck Wagner“, das genauso gut ein Lied über Kanye West, die Cancel-Culture oder die tragische Menschlichkeit aller Künstler sein könnte. Die in „F*ck Wagner“ angedeutete Trennung von Kunst und Künstler verlangt von uns, Wagners (oder Kanyes) Musik zu feiern und gleichzeitig die Freiheit zu haben,„f*ck them“ zu sagen. Deshalb ruft Gonzo in seiner Wahlheimat Köln derzeit eine Kampagne ins Leben, um den Namen genau dieses verhassten Mannes aus der Richard-Wagner-Straße zu entfernen und durch den von Tina Turner zu ersetzen, die Köln als Exil-Amerikanerin einst zu ihrer Wahlheimat gemacht hat (so wie auch Gonzo als Kanadier im Jahr 2012). Die Phrase „den Kimono öffnen“, ein Tech-Bro-Ausdruck für „Transparenz“, wird hier umfunktioniert, um zu beschreiben, was ein Künstler tut.

Wie Gonzo sagt: „Ich hoffe nur, dass ihr mich nicht hassen werdet, wenn ich fertig bin“. Ein wahrer Künstler hat keine andere Wahl, als sich auszudrücken. Der einzige Gastsänger auf diesem Album ist Detroit OG Bruiser Wolf (unter Vertrag bei Danny Browns Bruiser Brigade) und er öffnet seinen Kimono mit einer Strophe voll spielerischem Swing und mystischer Lyrik. Nach dem durchschlagenden Erfolg von „French Kiss“ (mit mehreren Radiohits, in denen Gonzo in der Sprache Molières rappt), kam er zu einer Erleuchtung: Das Schreiben in einer Fremdsprache kann einen Autor einschränken und befreien zugleich. Gonzo hat den größten Teil seines Erwachsenenlebens in Deutschland verbracht und zollt hier den Höhen und Tiefen des Lebens in seiner neuen Heimat Tribut. Wenn Deutsche dieses Lied hören, wird sich ihre Gehirnchemie für immer verändern. Das Album erreicht seinen Höhepunkt mit „Neoclassical Massacre“, einer Schimpftirade in Reimform, in der jene Künstler angeprangert werden, die Musik machen, nur um sich der Algorithmus-Logik von Spotify-Playlisten anzupassen. Ein kompliziertes Vorhaben von jemandem, der 2004 mit seinem ersten ikonischen „Solo Piano“-Album fast versehentlich den Anfang der „neoklassischen“ Musik begründet hat. Keine einfachen Antworten, aber die Wahrheit tut weh

Tourdates: 
04.12.2024DÜSSELDORF Tonhalle

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